1

Es tut zwar eigentlich nichts zur Sache, aber dennoch sei hier kurz erwähnt wie ich auf dieser eigentümlichen Insel landete auf der sich so viel so Merkwürdiges ereignete dass ich mich dazu veranlasst sah es zu notieren.

Auf einem ansonsten recht unbedeutenden Flug vom winterlichen Kapstadt ins subtropische Kuala Lumpur hatte ich, wenn man so will, großes Glück im Unglück. Oder Unglück im Glück, das hängt wohl von der Sichtweise des Betrachters ab. Jedenfalls ertönte plötzlich die besorgte Stimme unserer Pilotin über die Gegensprechanlage und teilte uns mit dass wir, gezwungenermaßen, auf einer kleinen Insel notlanden müssten. Notlanden, so dachte ich bei mir, denn ich bin ein positiv denkender Mensch, ist sicherlich besser als notwassern, was angesichts unserer geografischen Position ebenso eine Möglichkeit gewesen wäre, und so harrte ich relativ gelassen der Dinge die da auf mich zukommen würden.

Die Notlandung selbst verlief, das muss man der Pilotin hoch anrechnen, nicht viel holpriger als so manche reguläre Landung die ich schon erlebt hatte. Vielleicht lag es auch daran dass meine Mitreisenden zweifellos mit dem schlimmsten gerechnet hatten und die plötzliche Erleichterung ob der Tatsache dass wir unbeschadet auf dem breiten Rollfeld zum Stehen gekommen waren uns alle in eine überraschende Hochstimmung versetzte.

Mit festem Boden unter den Füßen und dem Tresen der Airline, die ich, auch das sei hier nur kurz erwähnt, bei aller Liebe nicht wirklich weiter empfehlen kann, also vielleicht 2 Sterne von 5, oder höchstens 3, vor uns, wandelte die Euphorie sich allerdings bald in Resignation. Man sei bemüht, so teilte man uns freundlich mit, unser Fluggerät möglichst rasch in Stand zu setzen, jedoch, man benötige dafür ein Ersatzteil welches, sehr zum Bedauern der Airline, derzeit nicht so einfach zu beschaffen sei. Deshalb wären wir, das heißt, die wenigen Passagiere, die Pilotin und die zwei Stewardessen, wohl, so ungern man das auch so drastisch formuliere, fürs Erst hier gestrandet.

Hier, das war nun also besagte Insel mit ihren eigenartigen Bewohnern.

2

Der Abend war schwül und die Hitze drückend als ich das kleine, niedrige Gebäude des Flughafens, das in einer anderen Stadt bestenfalls als Buswartehäuschen durchgegangen wäre, verließ. Wohin sich meine Mitreisenden verdrückt hatten war ich beim besten Willen nicht im Stande zu eruieren, und so schlurfte ich allein über den glühenden Asphalt auf die wenigen Taxis zu die geduldig auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihrer Kundschaft harrten.

Kaum hatte ich mich dem ersten der grün/weiß lackierten, von der Form her stark an Schuhkartons erinnernden, Fahrzeuge so weit genähert dass ich seinen Lenker ausnehmen konnte, hatte dieser den Wagen auch schon von innen versperrt. Kurz rüttelte ich an der Beifahrertür, doch es war zwecklos. Schulterzuckend, fast mitleidvoll, sah mir der Fahrer in die Augen bevor er mich mit einer abweisenden Handbewegung verscheuchte, wie ein lästiges Insekt.

Auch beim zweiten, beim dritten, und beim vierten Fahrzeug in der Reihe erging es mir ähnlich, was selbst einen so ausgeglichenen Zeitgenossen wie mich langsam, aber stetig zur Verzweiflung treiben kann. Erst der Chauffeur des letzten, eines außergewöhnlich schmutzigen, Wagens erbarmte sich meiner. Nachdem ich auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte versuchte ich ihm meine missliche Lage zu erklären, und bat ihn mich in ein nicht all zu teures, aber auch nicht ausgesprochen schlechtes, Hotel irgendwo im Stadtzentrum zu bringen. Der Mann, dessen schütteres Haar auf seinem kaffeebraunen Kopf lag wie kleine, fluffige, Federn schien mein Ansinnen immerhin zu verstehen. Flink setzte er den Wagen in Bewegung und als wir die anderen, immer noch mit versperrten Türen brav in der Reihe wartenden Taxis passierten deutete ich mit einem inquisitiven Gesichtsausdruck zu ihnen hinüber. Meine Frage schien ihn zu amüsieren, denn ein grinsen huschte über seine fleischigen Lippen.

Karma,” war alles was er mir zur Antwort gab.

3

Der Wagen kam, exakt wie ich das verlangt hatte, irgendwo in der Innenstadt zu stehen. Gegenüber lag anscheinend das “Hotel” indem zu nächtigen der Fahrer mir nahezulegen schien, wenngleich das Gebäude auf das er zum Abschied deutete rein äußerlich eher an ein dem Verfall anheim gegebenes Gefängnis aus einem Wild-West-Film erinnerte. Ausgelaugt und zunehmend unentspannt wie ich war überquerte ich schnellen Schrittes die zwei Fahrspuren die mich von dem niedrigen, weißen Betonbunker trennten. Begrüßt wurde ich vom Portier, der, wie ich später herausfinden sollte, auch der Hausmeister, Kellner, Rezeptionist, Zimmermädchen, Koch, Betreiber und Besitzer des schmucklosen Etablissements war.

Wobei “begrüßt” vielleicht nicht das richtige Wort ist, “angebufft” trifft es womöglich besser. In einer Sprache schimpfend der ich nicht Herr war, das heißt, deren Existenz ich mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht mal bewusst war, deutete er aufgebracht auf die Fahrbahn die ich so eben gekreuzt hatte. Lediglich ein einziges vertrautes Wort war ich im Stande aus seinem Redeschwall zu fischen: “Karma!”

4

Nachdem ich die mir zugewiesene Kammer, “Zimmer” wäre eine Übertreibung gewesen, bezogen, einen Schluck getrunken, und mich frisch gemacht hatte, überkam mich plötzlich ein überwältigendes Hungergefühl.

So machte ich mich auf die Suche nach einem Lokal das zu dieser späten Stunde noch Mahlzeiten anbot und stolperte dabei unversehens in ein überdimensionales Einkaufszentrum unweit meiner Herberge. Im Gegensatz zum Rest dessen was ich von der Stadt bisher zu sehen bekommen hatte, das sich mit dem Adjektiv “verrußt”, nicht nur im Wort- sondern auch im übertragenen Sinn, am besten beschreiben lassen könnte, glänzte die “Mall” wie so eben frisch poliert.

Eine nicht leicht zu übersehende Tafel gleich hinter dem gläsernen Eingang diente mir als Hinweisgeber darauf dass der “Food Court” sich in der obersten Etage befände. Abgekämpft und ausgelaugt wie ich war wollte ich mir den beschwerlichen Fußweg ersparen und machte mich auf die Suche nach einem Fahrstuhl. Selbstverständlich war auch der Weg zu den gläsernen Aufzügen gut ausgeschildert und alsbald stand ich vor Tür zur einem solchen, den ich auch umgehend zu Benützen versuchte. Ich sage “versuchte” weil ich zu meiner Schande gestehen muss dass mir dies beim Besten Willen nicht gelang. So oft und so kräftig ich den mit “Up” beschrifteten Knopf auch drückten wollte, rein gar nichts setzte sich in Bewegung.

Plötzlich betrat eine Gruppe Jugendlicher lärmend diese “Mall” und schritt geradewegs auf die Lifte zu vor denen ich noch leicht verdrossen stand. Der mutmaßliche Rädelsführer, oder jedenfalls der mit dem lautesten Organ, betätigte den “Up”-Knopf interessanterweise ganz genau so wie ich zuvor, doch diesmal sauste der Aufzug prompt heran. Etwas beschämt, leicht irritiert, und immer noch hungrig schlich ich hinter den Halbwüchsigen an Bord und folgte ihnen ins Dachgeschoss.

Ein einziges Restaurant, das offensichtlich nichts anderes gefüllte Teigtässchen offerierte, hatte so spät noch geöffnet und war dementsprechend gut besucht, allerdings auch nicht überfüllt. Ich wandte mich an die Dame am Eingang mit dem Ansinnen mir doch einen Tisch zuzuweisen woraufhin ich zunächst ignoriert, dann mit kritischem Blick gemustert, und schließlich zu weiterem Warten verurteilt wurde. Irgendwann nahm man sich dann doch meiner an und wies mich an einen wackeligen Einzeltisch, der strategisch geschickt zwischen dem Durchgang zur Küche und dem zu den Toiletten lag.

Das Essen war, wie soll ich sagen, mäßig, aber ich war gewiss in keiner Position darüber zu klagen. Beim Bezahlen ereignete sich jedoch die nächste, mir unerklärliche Episode. Gezwungenermaßen beglich ich meine Rechnung in bar, noch dazu in einer Fremdwährung, wobei ich naturgemäß damit rechnete ein wenig über den Tisch gezogen zu werden. Erstaunt war ich allerdings schon über die Tatsache dass die ganze Gruppe Jugendlicher neben mir zusammen weniger auslegen musste als ich alleine!

Die Kellnerin, die mir auch schon den Platz zugewiesen und das Essen serviert hatte, tat meinen Einwand darüber mit einem Lächeln, und einem weiteren Verweis auf “Karma!” ab.

5

Auf dem Weg zurück zu meiner Unterkunft war ich gezwungen mehrere Fußgängerampeln zu passieren an denen sich jedes mal ein mir ebenso unverständliches wie nervtötendes Schauspiel ereignete.

Ich schritt zielstrebig auf den Bordstein zu, erblickte das rot erleuchtete kleine Männchen auf der gegenüberliegenden Signalanlage, und blieb stehen. Nach links und rechts spähende hielt ich Ausschau nach Fahrzeugen in der Querstraße, war jedoch nie im Stande eines auszumachen. Minutenlang stand ich, ich muss sagen mir fast etwas dämlich vorkommend, am Straßenrand und wartete. Wenn allerdings, wie das zu meinem Glück jedes mal geschah, jemand anders durch seine pure Anwesenheit ein Ansinnen die Fahrbahn kreuzen zu wollen kund tat, sprang die Ampel unmittelbar auf grün!

6

Unweit meines, bleiben wir von mir aus bei dem Begriff, “Hotels”, kreuzte sich mein Weg schließlich mit dem eines Obdachlosen. Das heißt, der große, hagere Mann mit den dunklen Augen saß in einem Hauseingang an dem ich vorüber kam, und sprach mich unvermittelt an. Ob ich unter Umständen ein wenig Kleingeld zur Disposition hätte, so lautete sein Ansinnen, welches er zu meinem Erstaunen in einem makellosen Oxford-Englisch vortrug. Nun hege ich ganz und gar keine Vorurteile, jedoch hätte mich bei einem Mann in der Position meines Gegenübers ein weniger gepflegter Umgangston wahrlich nicht verwundert.

Leider, so entgegnete ich ihm schulterzuckend, ich selbst sei nur auf der Durchreise und nicht mal im Besitz einer einzigen Einheit der lokalen Währung, von welcher ich, wie ich ebenfalls zu meiner Schande gestehen musste, bis dato auch noch nie gehört hatte. Auf diese Weise entspann sich ein überraschend aufschlussreiches Gespräch mit dem unterstandslosen Herrn welches uns, ausgehend von der misslichen Tatsache dass ich ihm lediglich ausländische Devisen anstatt lokaler Hartwährung anbieten konnte, über die Vor- und Nachteile elektronischer Zahlungsmittel, bis zu seiner ganz persönlichen Lebensgeschichte führte.

7

Der mittellose Herr, so führte er aus, war, wie ich bereits vermutet hatte, nicht sein Lebtag lang mittellos gewesen. Ganz im Gegenteil hatte er ein nicht unerhebliches Vermögen geerbt welches er selbst durch harte Arbeit und geschickte Veranlagung weiter zu mehren imstande gewesen war.

Es trug sich jedoch zu dass dieser kleine Inselstaat in wirtschaftliche Schieflage geraten war und ausländischer Unterstützung bedurfte. Man war der einen oder anderen Krise anheim gefallen, die womöglich von weniger zu Korruption und Ne­po­tis­mus neigenden Regierungen besser gehandhabt worden wären, aber nun eben mit Hilfe finanzkräftiger Geldgeber bekämpft werden mussten.

Diese Investoren waren es schließlich auch gewesen die die Idee dazu hatten auf jener unscheinbaren Insel verschiedene Veränderungsprozesse unterschiedlicher Tragweite einzuführen. Diese reichten von der Privatisierung der wenigen, aber wertvollen, natürlichen Rohstoffquellen, über die Errichtung mehrerer großer Handelshäfen, bis hin zur Einführung eines, für alle Bürger verpflichtenden, Bonus-Malus Systems für soziales Verhalten.

Dieses System, das unter dem Namen Karma vor einigen Jahren seine Endausbaustufe erreicht hatte, deckte zahlreiche Lebensbereiche vollständig ab. Wer sich in einer Art und Weise benahm die die soziale Kohärenz stärkte konnte mehr und mehr “Karma” sammeln, wohingegen weniger gern gesehenes Verhalten zum Abzug von “Karma” führte.

“Karma” seinerseits war eine interessante Sache: An sich zwar kein Zahlungsmittel, aber doch ähnlich konstituiert, konnte es einem in allen möglichen misslichen Lagen helfen. Wer mehr “Karma” hatte bekam eher einen Tisch im Restaurant, für den schalteten Ampeln eher auf grün, der musste sogar weniger Bares für Produkte und Dienstleistungen auslegen.

Der freundliche Herr der mir all dies erzählte schilderte schließlich auch wie er selbst in seine missliche Lage geraten war: Er hatte die Frechheit besessen sich kritisch über den wachsenden Einfluss der freundlichen Investoren einerseits und das “Karma”-System andererseits zu äußern, was dazu führte dass man ihm die Teilnahme an ebendiesem ganz einfach verweigerte. Ohne, das heißt mit null Karma, war es ihm dann weder möglich Bargeld von seinem, nach wie vor prall gefüllten, Konto zu beheben, noch öffentliche oder private Verkehrsmittel zu benutzen, geschweige denn am öffentlichen Leben in irgend einer Form teilzuhaben. Sogar der Zutritt zu den meisten Gebäuden, sogar zu solchen die sich zweifelsfrei in seinem Besitz befunden hatten, wurde ihm verwehrt.

So war ihm schlicht keine andere Möglichkeit geblieben als auf offener Straße um Almosen zu bitten dank derer er immerhin nicht verhungerte.

8

Ich verabschiedete mich von dem netten Herrn dessen Geschichte mich, zu meiner eigenen Verwunderung, stark berührt hatte. Darüber hinaus hatte sie mir etwas mehr Klarheit über “Karma” gegeben wofür ich überaus dankbar war.

Was den Herrn selbst betraf, ich sah ihn nach dieser einen Begegnung leider nie wieder. Bereits am nächsten Morgen erreichte mich die erfreuliche Nachricht der Airline man wäre nun in der glücklichen Lage uns Gestrandete ausfliegen zu können und wir mögen uns so bald als möglich am Flughafen einfinden.

9

Mit einer gewissen Wehmut denke ich heute an die kurze Episode die sich mir auf der Insel dargeboten hatte zurück. Ich frage mich manchmal ob der freundliche Obdachlose mittlerweile genug Karma gesammelt hat um in sein Haus zurück zu kehren?