Ein paar Augenblicke noch, dann wäre es für immer vorbei. Er musste nur noch das Geländer los lassen. Tief einatmen. Springen. Seine Welt würde dann aufhören zu existieren. Das worum sich diese Welt gedreht hatte existierte ohnehin nicht mehr.


Die Diagnose war kurz nach ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag gestellt worden. Krebs, so die Ärzte, hatte sich in ihrem bis dato gesunden Körper eingenistet. Metastasen wucherten bereits in Lunge, Magen und Darm als sie überhaupt erst bemerkt hatte dass etwas mit ihr nicht zu stimmen schien. “Ungewöhnlich” nannten es die Ärzte dass bei jemand in ihrem Alter gerade eine so aggressive Form der Krankheit ausbrechen würde. Ungewöhnlich, aber eben nicht unmöglich. Ihr Alter, erklärte man ihr weiter, war allerdings auch die Achillesverse in dem Kampf der ihr nun bevor stand.

Der biologische Prozess der Zellteilung dank dem der menschliche Körper in der Lage ist sich immerfort selbst zu erneuern verlangsamt sich nämlich im Lauf der Zeit. Deshalb altern — und sterben — Menschen zwar, aber deshalb können auch Tumore bei älteren Patienten weniger schnell wachsen. Hätte sie der Krebs also mit 74 statt mit 24 erwischt hätte sie womöglich noch Monate, vielleicht Jahre, zu leben gehabt. So blieben ihr wenige Wochen. Ein paar Monate, bestenfalls.

Als er von ihrem Zustand erfuhr glaubte er für einen Moment in eine andere, grausamere Version der Realität strafversetzt worden zu sein. Sie hatte ihm am Tag der Diagnose eine kryptische WhatsApp Nachricht geschickt die er im ersten Moment für einen misslungenen Aprilscherz hätte halten können, doch als ihr engster Freund seit Kindertagen kannte er sie zu gut um ihr eine so plumpe Überraschung zuzutrauen.

Er war daraufhin sofort zu ihr in die Klink gekommen, aber die Hoffnung es könnte sich doch um ein Missverständnis, einen Fehler, oder eine Verwechslung handeln wurde enttäuscht. Selbst der vorsichtige Optimismus den zu verbreiten manche Ärzte anfänglich noch versuchten schwand mit jedem weiteren Befund. Die Sprache der Mediziner wandelte sich ebenso: War zunächst noch von Behandlungsoptionen die Rede sprachen sie am Ende des Tages den er fast zur Gänze bei ihr verbracht hatte immer öfter von Schmerztherapie. Davon, wie man ihr die verbleibende Zeit so angenehm wie möglich gestalten könnte.

Das konnte und wollte er nicht wahr haben. Ein Leben in dem sie nicht mehr vorkam war für ihn schlicht unvorstellbar. Untätig zuzusehen wie sie ihre letzten Tage zugedröhnt mit Morphium vor sich hin siechte ebenfalls. Deshalb begann er noch am selben Abend auf eigene Faust zu recherchieren. Irgend ein Fehler musste den Ärzten doch unterlaufen sein. Hatten sie ein Testergebnis falsch interpretiert? Eine Therapie übersehen? Eine neues Forschungsergebnis nicht berücksichtigt?

Die darauf folgenden Tage und Nächte hing er gebannt vor dem Bildschirm und saugte alle Informationen auf die er finden konnte. Doch je tiefer er in die Materie eintauchte umso persönlicher wurden die Geschichten auf die er stieß und umso weniger hilfreich schienen sie zu sein. Hatte er zuerst noch wissenschaftliche Arbeiten gewälzt und Anatomievorlesungen gestreamt so glitt er zusehends ab in Foren in denen sich Betroffene und Angehörige austauschten, sich Mut zusprachen, und sich schließlich Beileidsbekundungen überbrachten.

In einem solchen Forum war er auch auf die Geschichte von Maja gestoßen. Vermutlich war das nicht ihr richtiger Name gewesen, aber was sie erzählte deckte sich auf eine bedrückende Art und Weise mit dem was er gerade durchmachte: Majas Ehemann war mit der selben Krebsart diagnostiziert worden, die Prognose war ähnlich düster gewesen. Doch Majas Erzählung nahm eine positive Wendung: Sie berichtete von einem neuartigen Medikament weit Abseits der Schulmedizin das ihrem Mann schlussendlich das Leben gerettet hatte. Selbstredend war das Wundermittel in Europa weder zugelassen noch auf einfache Art und weise zu bekommen, war es doch, so Maja, vom U.S. Militär entwickelt worden und von ziviler Anwendung noch meilenweit entfernt.

Entgegen seiner sonst so skeptischen Natur nahm er umgehend Kontakt mit der mysteriösen Leidensgenossin auf. Ihm war klar dass er Zugang zu diesem Medikament bekommen musste, dass das die einzige Chance war ihr Leben zu retten. Glücklicherweise ließ eine Antwort von Maja nicht lange auf sich warten, doch anstatt lediglich den Kontakt zur Quelle des Medikaments herzustellen versprach diese sich um die ganze Abwicklung der Lieferung zu kümmern. Oberstes Gebot war nämlich die Anonymität der Quellen zu wahren, schließlich ging diese ein immenses Risiko ein um einem Fremden am anderen Ende der Welt zu helfen. Selbstverständlich wollte dieses Risiko entsprechend honoriert werden und so überwies er wenige Tage später eine beachtliche Summe auf ein anonymes Bitcoin Konto.

Die darauf folgenden Tage waren die schlimmsten seines bisherigen Lebens. Er musste mit ansehen wie sich ihr Zustand nahezu stündlich verschlechterte, war aber nicht im Stande ihr von dem Wundermittel welches in greifbarer Nähe zu sein schien zu erzählen. Schließlich war er immer noch unsicher ob er nicht doch Betrügern aufgesessen war die vielleicht nicht zu Liefern in der Lage waren. Hoffnung zu schüren um sie dann enttäuschen zu müssen wäre grausamer als gar keine Hoffnung, so fand er.

Zehn Tage später bekam er jedoch Post. Ein Briefumschlag ohne Rücksendeadresse, etwas dicker gewöhnlich, mit Poststempel aus Wilmington, Delaware, fand sich schließlich in seinem Briefkasten. Jetzt wo er das Mittel in seinen Händen hielt und die Chance auf Heilung so nah war, kannte seine Begeisterung kein Halten. So schnell er konnte war er zu ihr geeilt um ihr alles zu erzählen: Mit sich überschlagender Stimme berichtete er von Internetforen, von Delaware, von Maja, von deren wundersam geheilten Ehemann. Davon dass das was ihn wieder gesund gemacht hatte auch für sie möglich war. Dass sie nur die Tabletten einnehmen musste die er in der Tasche hatte und dann alles wieder gut werden würde.

Ihre Reaktion jedoch war ganz anders ausgefallen als er es sich ausgemalt hatte. Nicht die Begeisterung über das neue Leben dass er ihr zu schenken versuchte überwog, auch nicht die Dankbarkeit auf die er so sehr gehofft hatte. Eine Dankbarkeit die, davon war er insgeheim überzeugt, auch wenn er sich das noch nicht mal selbst ganz eingestehen konnte, unweigerlich in Liebe münden musste. Wie sonst konnte man dem Menschen begegnen der einen vor dem sicheren Tod bewahrt hatte?

Ganz im Gegenteil jedoch hatte sie skeptisch, ja geradezu aggressiv reagiert. Als sie erst mal verstanden hatte woher das Medikament angeblich kam und wie wenig er oder irgend jemand sonst darüber wusste schien ihre Ablehnung unumstößlich. Die ganze Nacht über hatte er versucht sie zu überzeugen es doch zu probieren. Ihr gut zugeredet. Mit ihr gestritten. Sie angeschrien und angefleht. Und schließlich mit Tränen in den Augen an ihr Gewissen appelliert, daran dass sie ihn hier unmöglich allein lassen konnte. Aber nichts hatte geholfen. Sie wollte die wenige Zeit die ihr noch blieb genießen, und wenn es Zeit war in Würde sterben.


Keine zwölf Stunden später fand man sie leblos am Boden liegend. Sie war vor Schmerzen gekrümmt, das Gesicht kalkweiß und der Mund zu einer ausdruckslosen Grimasse verzerrt. Bei der Autopsie wurde schließlich Herzversagen als Todesursache festgestellt, vermutlich infolge von plötzlich auftretenden Herzrhythmusstörungen. Die Schachtel mit den Tabletten neben ihr am Boden fand allerdings keine große Beachtung. Und das, obwohl sich in den fünf rechteckigen Ausbuchtungen der Blisterverpackung nur mehr vier Tabletten befanden. Eine fehlte.


Er ließ das Geländer los. Atmete tief ein. Und sprang.